Trotz - Das Nein ordnet die Welt
Der Umgang mit Trotz ist von hoher Bedeutung für die seelische und geistige Entwicklung des Menschen. Je nach Zusammenhang gilt er als hoher Wert oder als Charakterfehler: Im selbstbewussten Nein imponiert er als bewundernswerte Stärke; im tobenden Um-sich-Schlagen als Erziehungsproblem: Bei beidem geht es darum, ein Nein durchzusetzen.
Neinsagen können ist eine einzigartige Fähigkeiten der Menschen. Es ermöglicht ihm, überhaupt Stellung nehmen zu können und ist damit der Ursprung der Freiheit, des Bewusstseins und Denkens (Intelligenz). Kein anderes Lebewesen ist dazu in der Lage, sich dem Kräftespiel der Natur entgegenzustellen und allen treibenden Kräften (Gier, Wünsche, Angst usw.) ein Nein entgegen zu stellen.. Dies hat Philosophen seit Beginn der Aufklärung so sehr fasziniert, dass einige von ihnen den Menschen nach dieser Fähigkeit definiert haben: Der Mensch ist der Nein-Sagen-Könner (Scheler) oder der erste Freigelassene der Natur (Herder).
Tatsächlich werden wir nicht als „Nein-Sagen-Könner“ geboren. „Von Natur aus“ steht unseren Wünschen von innen heraus nichts entgegen: Der gesunde Säugling ist aufnahmebereit, weltoffen und will alles be-greifen, „be-spüren“. Ständig hat er alles im Mund (dem ersten und von Beginn an am besten ausgebildeten Wahrnehmungsorgan) und in den Händen. Es gibt wohl unangenehme Zustände, die er schreiend der Welt verkündet. Wie Unangenehmes entsteht, kann er aber ebenso wenig erahnen, wie die Herkunft des Angenehmen.
Grenzen erfahren
Im Laufe seiner Welteroberungstouren gerät er an Grenzen. Diese Grenzen sind einerseits materieller Art: Der Stuhl, die Zimmertüre, der Kasten: Sie lassen sich ziemlich einfach begreifen; denn sie bieten der Bewegung einen Widerstand, der sowohl von den Augen als auch von den Berührungen her gleichermassen und gleichzeitig erfasst wird. Tausende solcher Erfahrung ergeben Vorstellungen und Abbilder im Gedächtnis: Die Türe ist hart, mit dem Kopf kann man nicht durch die Wand, das Kissen ist weich, die Katze ist warm: Später wird die Katze noch zusätzliche wichtige Unterscheidungen in der Ordnung der Welt ermöglichen: Das Kissen lässt sich bewegen wie die Katze auch, aber das Kissen bleibt liegen, während die Katze davonspringt oder Widerstand leistet dagegen, bewegt zu werden: Es gibt also Dinge, die ähnlich sind (Stofftier) und doch auch wieder ganz anders: Der Unterschied liegt darin, dass die eine lebt und die andere nicht lebt.
Auf diese Weise erobert sich das Kleinkind seine Ordnung der Welt. Gewisse Dinge kann es bewegen, gewisse nicht. Wache Kinder experimentieren den ganzen Tag mit ihrer Umgebung: Welche kann ich verschieben, welche nicht. Sie beobachten, dass der Vater den Tisch verschieben kann, es selber aber nicht: Woran liegt das? Offenbar hat der Vater nicht dieselbe Begrenztheit wie ich, er kann viel mehr als ich.
Ein wacher Geist schafft sich so Schritt für Schritt Ordnung in der Welt, indem er abgrenzt, zuordnet, Zusammenhänge phantasiert. Gewisse „Phantasien“ lassen sich überprüfen, z.B. ob sich der Tisch besser verschieben lässt, wenn ich ihm gut zurede wie dies beim Familienhund geht. Andere Vorstellungen können nur geglaubt werden, z.B. dass die Mutter alles so machen kann wie sie will, also allmächtig ist. Das kleine Mädchen geht also genau so vor wie ein Forscher: Es entwickelt Hypothesen, prüft sie und glaubt, was sich prüfen lässt. Daneben glaubt es aber auch viel, was es nicht oder noch nicht prüfen kann. Die Vorstellungen sind nicht immer richtig in den Augen der Erwachsenen, viele Täuschungen und falsche Vorstellungen entstehen auf diese Weise. Allerdings müssen wir zugeben, dass auch wir Erwachsenen uns in vielem täuschen und ein kindlich unverstellter Blick manchmal auch Dinge sieht, die wir aus Gewohnheit übersehen.
Natürliche und künstliche Grenzen
Auf seinen Entdeckungsreisen trifft es nun aber auf besonders merkwürdige Grenzen: Sie sind nicht sichtbar und auch nicht ertastbar, können aber schmerzhaft sein. Wenn die heisse Herdplatte erkundet wird, leuchtet auch dem kleinen Kind ein, dass es dort die Berührung besser bleiben lässt; andererseits muss es doch wissen, ob die Berührung denn immer so eine heisse Nummer ist: Es hat nämlich beobachtet, dass die Mutter manchmal mit einem dünnen Lappen über diese Platten fährt ohne zu schreien. Auch es selber versuchte einmal trotz des Geschreis der Eltern, diese zu berühren und es brannte nicht.
Nun war aber dieses Geschrei der Eltern selber wieder eine Schwierigkeit, um doch noch an die Platte heranzukommen; denn - soviel hat das Kind gemerkt - es passte den Eltern offenbar nicht, dass es sich dort zu schaffen macht. Das gibt Probleme zum Denken: Gönnen die Eltern mir die Erfahrung nicht, weil sie sie für sich selber behalten wollen? So etwas war letzthin auch beim Kasten, der manchmal tönt und lustige Lieder singt. Obwohl der nie heiss ist, gab es grosses Geschrei, als es auf ihn hinaufklettern wollte.
Mein Nein und Dein Nein
Dieses Erfahren von Grenzen bekommt im Laufe der ersten zwei Lebensjahre einen Namen: Nein! Überall ist es zu hören: Auf dem Spielplatz, wenn ich die schöne Schaufel nehmen will, die ich noch nie sah; auf dem Weg dorthin, wenn ein so schöner Hund auf der andern Seite der Fahrbahn zu begrüssen wäre; aber auch wenn ich dem hässlichen bösen Hund davon springen will. Das Nein ist ein mächtiges Zauberwort. Bald haben Kinder begriffen, dass mit „Nein“ die Welt gesteuert wird: Nein unterbricht Bewegungsabläufe; Nein nötigt Verzicht und Frustration auf; Nein ordnet die Welt des Besitzes: Ich will die Eisenbahnlok, die so lustig fährt, ergreifen und untersuchen: Nein sie gehört deinem Bruder, spiel du lieber mit deiner neuen Barbie, die gehört dir, mit der kannst Du machen, was du willst.
Aha: Nein hat viel mit Macht zu tun. Wo kein Nein ist, bin ich uneingeschränkte Herrscherin. Kann ich denn auch Nein sagen? Gibt Nein mir auch Macht?
So beginnen Kinder mit dem Nein zu experimentieren. Dies ist aber meist ein äusserst verwirrendes Experiment und schwer daraus klug zu werden. Manchmal wirkt es. Nein ich will noch nicht ins Bett! Gut, du kannst noch eine Weile aufbleiben. Nein, jetzt will ich weiterspielen und nicht zum Essen kommen. Dies war offenbar falsch, die ganze Familie empört sich. Nein - ich darf jetzt nicht mehr weiterspielen. Das Nein der Mutter ist ein anderes als mein Nein.
Gutes oder böses Nein
Kommt dazu, dass mein Nein meist ein gutes ist: Wenn ich nein sage, schützt es mich vor Frustration oder unangenehmen Dingen; wenn der Vater nein sagt, ist dies meist unangenehm oder behindert mich. Aber auch das eigene Nein kann unangenehm werden. Es kann ganze Gefühlsstürme auslösen und ist ganz offensichtlich sehr mächtig. Mein eigenes Nein bringt mich manchmal sehr in Bedrängnis, sei es dass eine fast nicht auszuhaltende Spannung entsteht zwischen mir und allen andern, sei es dass ich ausgelacht werde, wenn ich dann nichts kriege.
Letzthin wurde ich gefragt, ob wir auf den Spielplatz wollen. Ich sagte nein, weil ich bestimmen will, nicht weil ich nicht mochte. Aber das konnten die Erwachsenen natürlich nicht begreifen. Wir blieben zuhause, langweilig und ärgerlich. Das war ein Missverständnis, denn Nein bedeutet doch Macht, bedeutet Bestimmen können und andere gefügig machen. Aber das stimmt offenbar auch nicht ganz und nicht immer.
Und dann gibt es erst noch das strafende Nein. Ich wollte fertig spielen und habe daher auf dem Nein beharrt als das Essen bereit war. Jetzt wo ich essen will, heisst es nein! Ich hätte nicht essen wollen; so eine Gemeinheit.
Trotz - das emotionale Nein
Neinsagen ist nicht allein eine intellektuelle Tat. Sie erfolgt unter starker emotionaler Beteiligung. Das lehren uns die Zusammenstösse in Trotzattacken. Vielleicht verstehen wir jetzt besser, wieviel einem Kind an der „Beherrschung des Neins“ liegt. Gleich muss ich hier anfügen, dass auch viel an der elterlichen Beherrschung des Nein in der Familie liegen muss. Nachgeben aus Angst vor der Trotzattacke fördert weder Willenskraft, noch Denken oder Bewusstheit des Kindes.
Dennoch mag es uns helfen, solche Situationen durchzustehen und auszuhalten, wenn wir uns der Tragweite und des Hintergrundes bewusst sind, die in solchen Anfällen mitspielen. Manchmal ist nicht übertrieben, wenn wir behaupten für das Kind gehe es gefühlsmässig um Sein oder Nicht-Sein. Das Nachgeben bedeutet viel mehr als die Lächerlichkeit, um die es anfangs ging. Wir kennen das aus politischen Debatten oder auch Rechtshändeln, so z.B. auch bei Scheidung und Kinderzuteilung, bei denen die Frage des Gesichtsverlustes schon längst alle vernünftigen Argumente aus dem Feld geschlagen hat.
Aushalten und Achten
Oft gibt es keine rasche Lösung. Die Trotzattacke muss in erster Linie vom Stärkeren aus- und durchgehalten werden. rotz hilft dann und nur dann Charakterstärke aufbauen, wenn er ohne Sieg, ohne Niederlage mit Ernst und ohne Beleidigungen ausgehalten werden kann.
Oft ist im Trotz viel Angst im Spiel - meist auf beiden Seiten: Wenn ich nachgebe, habe ich für immer verloren. Bei der hohen ordnenden Bedeutung des Nein sind diese Ängste sogar einfühlbar. Jede Form der Beschämung oder Herabminderung des Kindes (z.B. „da ist aber eine kleine Welt verrückt!“) ist schweres Gift für den Selbstwert, aber auch für das Vertrauen des Kindes in die Achtbarkeit der Erwachsenen.
Wenn es gelingt, dem Kind zu vermitteln, dass seine Botschaft ankommt, dass Verständnis da ist, wie wichtig ihm das Nein ist; wenn uns gelingt anzuerkennen, welch hohen Einsatz an Eigenwert es in dieser Auseinandersetzung riskiert und dies ernsthaft begrüssen, gewinnen alle. Dann wird er zur guten Erfahrung von Achtung und Selbstachtung, Konfliktfähigkeit und Klärung. Es braucht nicht das Nachgeben der Eltern - ausser sie merken, dass ihr Beharren auf dem Punkt selber sehr kindisch und trotzig war, was durchaus vorkommen kann. Wir sollten uns dessen sowenig schämen wie wir das Kind im Trotz nicht beschämen sollten.
© Dr. Rudolf Buchmann