Täter und Träumer

Wenn Werthaltungen von Eltern oder Lehrern mit der Eigenart des individuellen Kindes in Konflikt geraten, kommt es oft zu schmerzlichen Konflikten, an denen alle leiden. Freude an der Vielfalt und an der Verschiedenartigkeit der Menschen bewirkt erst echten Humanismus in der Erziehung.

Johanna Spiry, die Schöpferin von „Heidi“ hat in einer nicht minder beeindruckenden Erzählung das Drama einer Kindheit unter solch schmerzlichen Konflikten geschildert: In „Einer vom Hause Leza“ reibt sich der bäuerliche Vater aus durchaus einfühlbarem und „berechtigtem“ Arbeitsethos heraus an der tiefen musikalischen Begabung des Sohnes wund, die er weder erkennen noch verstehen kann. Meisterlich stellt sie dar, wie tief verletzende Familienkonflikte, die schliesslich auch die Ehebeziehung in Gefahr bringen, nicht aus Boshaftigkeit oder „niedrigen Instinkten“ einer beteiligten Person entstehen. Vielmehr erwachsen sie aus der Unfähigkeit, die Andersartigkeit von Lebenspartner resp. Kind zu begreifen und zu respektieren. Die Autorin zeigt aber schliesslich auch einen Ausweg, der durch Hilfe von verständigen Mitmenschen (heute würde man von Nachbarschaftshilfe sprechen), Sohn und Vater ermöglichen aus tiefer Entfremdung eine hohe Achtung vor der jeweils anderen Geisteswelt des Gegenüber zu entwickeln.

Das Kind gibt es nicht!

An den Anfang unserer Überlegungen gehört ein Einspruch gegen den Siegeszug von Vereinheitlichung und Normierung. Der Behauptung, alle Menschen unterlägen denselben psychologischen und physiologischen Gesetzmässigkeiten, ist entgegen zu treten. Besser als nach einheitlichen Gesetzmässigkeiten zu suchen, wäre es die Vielfalt der Möglichkeiten zu beschreiben, denen Geist, Seele und Leib offenstehen: Den Menschen, das Kind – weder das Mädchen noch den Knaben – gibt es nicht!

Und das ist gut so: In unserer vielfältigen arbeitsteiligen Welt könnten wir gar nicht überleben, wenn alle dasselbe anziehend oder abstossend, begeisternd oder langweilig fänden, wenn alle an denselben Schicksalsschläge dieselben Leiden entwickeln würden oder alle für dieselben Umwelteinflüsse anfällig wären. So vielfältig die Welt und ihre Aufgaben sind, so vielfältig und unterschiedlich sind glücklicherweise auch die Menschen. Das „Wunder der Natur“ liegt gerade in der Vielfalt der Einheit und nicht in der Einheitlichkeit. Weiterentwicklung gibt es nur dank der grossartigen Vielfalt von Möglichkeiten der Ausformungen. Als Kehrseite steht dem allerdings die Vielfalt der Störungen und Anfälligkeiten gegenüber. Aber selbst dies ist ein Überlebensvorteil, indem nicht alle unter den gleichen Umständen dieselben Störungen entwickeln, sondern etliche trotzdem gesund überleben können.

Anderseits heisst dies aber auch, dass es kein Garant für die Unschädlichkeit z.B. elektromagnetischer Felder ist, wenn eine mehr oder weniger grosse Gruppe von Menschen nicht unter solchen Einflüssen leidet.

Überreizung oder Langeweile

Nicht jede Konzentrationsstörung entwickelt sich auf Grund von Lärm, wie uns ein Plakat gegenwärtig zu verstehen geben könnte. Aber sicher gibt es eine ganze Reihe von Menschen, die massive Reaktionen auf Lärm oder Reizüberflutung zeigen. Umgekehrt ist nicht für jedes Kind ein reizarmer Raum Grund zu gedeihlicher Entwicklung. Der Streit, ob z.B. Musikhören zum Hausaufgaben machen hinderlich oder förderlich ist, ist ein theoretischer Streit, solange versucht wird eine gültige Entscheidung herbeizuführen. Da wird nicht einmal die Hirnforschung helfen. Hingegen ist die Diskussion darüber – auch mit den betroffenen Kindern – wichtig und sinnvoll: Wozu wird die Musik benötigt? Erhöht sie die Konzentration oder mindert sie diese? Darüber hat ein Kind mitzusprechen; denn es gibt beides! Das betroffene Kind ist für sich Experte, wenn es ernst und verantwortungsbewusst in eine Argumentation des für und wider seines Verhaltens einbezogen wird.

Wir könnten die Beispiele vermehren. Für die Pädagogik resp. für Erziehungsratgeber und Helferliteratur bedeutet dies: Nie können sie einfach eins zu eins übernommen und einem bestimmten Kind und seiner Familie überstülpt werden. Die Vielfalt der Empfehlungen, ja sogar ihre oft diametrale Widersprüchlichkeit, ist kein Mangel oder gar Beweis ihrer Untauglichkeit. Vielmehr ist es die Stärke unserer Zeit, dass wir es zulassen, dass verschiedene Erfahrungen und Erkenntnis geäussert und damit diskutiert werden dürfen. Natürlich erschwert dies die Arbeit der Erziehenden auf den ersten Blick: Sie müssen sich klar werden, welche der Erkenntnisse auf ihre Situation anwendbar und angemessen ist. Dies erhöht zwar die Eigenverantwortlichkeit, vermindert aber die Gefahr, dass Vorurteile und „reine Theorie“ den Umgang mit Kindern stören oder diese sogar schädigen können.

Theorie und Praxis

Denken wir z.B. an die Hygienevorschriften in der Säuglingspflege, die bis weit in unsere Zeit Säuglinge um die absolut notwendige Berührung und Zuwendung gebracht haben. Erst die Untersuchungen des Kinderarztes René Spitz brachten deren verheerende Wirkung zum Vorschein. Er wies nach, dass die übermässige Hygiene die Säuglinge derart der emotionalen Zuwendung beraubte, dass sie in Säuglingsheimen in grosser Zahl starben. Dieser Nachweis setzt die Entdeckungen der Hygieniker nicht ausser Kraft. Es war wieder einmal die Einseitigkeit der Betrachtungsweise und der praktischen Umsetzung, die in die Katastrophe führte.

Ebenso geht es bei vielen Theorien, sei es bei der Haltetechnik, die tobenden Kindern eine Grenze setzen und dadurch Halt zu geben verspricht, sei es bei antiautoritären Empfehlungen, die Kinder oftmals der Grenzerfahrungen und dem ausgehaltenen und ausgehandelten Konflikt verlustig gehen lässt. Auch an der antiautoritären Theorie ist etwas dran. Auch sie fusst auf wichtigen Erfahrungen und Einsichten. Aber die Anwendung muss immer überlegen, ob sie dieser Situation und diesem Kinde angemessen ist.

TäterInnen und TräumerInnen

Schon kurz nach der Geburt überrascht sie ihr Kind mit seiner Rastlosigkeit. Immer muss etwas geschehen. Die besonders ruhige Atmosphäre führt keineswegs zur genussreichem Frieden; die Unlust und Unzufriedenheit durchdringt die Wohnung. Ist aber eine Menschenansammlung da, Gelächter, verschiedentlich wechselnde Zuwendung zur Kleinen guckt sie neugierig und vergnügt aus ihrem Sitzchen. Je turbulenter der „Mais“ desto zufriedener wirkt das Kind.

Dass das nachfolgende Geschwister ebenso sein wird, ist alles andere als sicher. Vielleicht lässt es sich kaum beruhigen, wenn grosser Betrieb herrscht, zieht sich in einen stillen Winkel zurück, so bald es sich selbständig bewegen kann. Spielt stundenlang für sich allein mit seinem Bausatz und will nicht gestört werden. Oder es sitzt da und staunt die Dinge seiner Umgebung an.

Kaum sind wir am idyllischen Waldbach und möchten die freie Natur geniessen, hat sich der Kleine schon mit einem Schäufelchen bewaffnet und beginnt die Welt zu verändern. Der Bachlauf soll nach dem Besuch unbedingt nicht mehr so sein wie zuvor.

Ein anderes Kind hört am selben Ort lange dem Zwitschern der Vögel zu, betrachtet versunken das Gurgeln des Wassers, berührt das Moos auf den Steinen.

Gestört oder wen stört’s?

Die hier geschilderten Unterschiede sind zunächst völlig normal. Eher zwecklos darüber zu spekulieren, wie die Unterschiede entstanden sein könnten. Stimmen die Haltungen der Kinder mit den Erwartungen der Erwachsenen überein, wird es nicht einmal besonders auffallen. Aber da kommt vielleicht eine gut gemeinte Anfrage der Tante: Hast auch schon bemerkt, wie wenig dein Kind unternimmt? Oder sie selber finden es unpassend, dass ihr eigenes Kind so gisplig ist, wo sie doch im Allgemeinen die Ruhe selbst sind.

Tatsächlich kann sich hinter dem einen wie dem andern Verhalten eine Störung abzeichnen, der entgegen zu wirken sinnvoll oder sogar notwendig wäre. Ist die Untätigkeit ein Zeichen einer tieferen seelischen Blockade? Leidet das Kind selber unter seiner rastlosen Unruhe? Kann es nie bei einer Aktivität verweilen? Kann es sich auf die umgebende Welt nicht einlassen? Oder passt die Eigenart des Kindes schlicht und einfach – aber sehr schwierig zu verbessern – nicht in das angebotene Umfeld? Ist das Kind zu laut oder sind die Ansprüche der Erwachsenen und Nachbarn zu kleinlich? Verkümmert das Kind innerlich in einer Blockade seiner Interessen oder erlebt es in sich gekehrt eine andere Fülle von Eindrücken, die wir aus Oberflächlichkeit übersehen?

Dies sind wichtige Fragen und zu ihrer Beantwortung sind genaue Beobachtungen nötig. Ich möchte sie darin stärken, nicht gleich eine Störung zu vermuten, womöglich Beruhigungstabletten oder Aktivierungsprogramme einzusetzen, wenn die Art des Kindes nicht zu ihren Erwartungen passt. Manchmal gilt es auch dem Kind bei uneinsichtigen Erwachsenen oder auch in der Schule den Raum zu schaffen, der zu ihm passt. Das kann auch heissen, nach einer Schule zu suchen, die den Werten des Kindes (nicht nur, aber vielleicht auch der Eltern) entgegenkommt. Wird ihnen aber bei der Beobachtung ihres Kindes selber angst, ist es durchaus ratsam, das Kind professionell abklären zu lassen.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Charakter, Genetik, Schulstress, Werte, Kindergartenalter, Schulalter, Problemkinder