Nur aus Liebe ....

Liebe ist eine Kraft. Und wie bei allen Kräften kommt es wesentlich darauf an, wie sie eingesetzt wird und wozu sie dient. Sie kann lebensspendend sein, aber auch Schaden zufügen.

Sandor Marai schildert den Sachverhalt in seinem Roman „Glut“ eindrücklich: „Es wird doch niemand ausgesprochen haben, warum das Kind krank geworden war? Natürlich nicht, aber man wusste es doch: Der Junge brauchte Liebe, und als sich die Fremden über ihn gebeugt hatten und als von überall her der unerträgliche Geruch geströmt war, da hatte es zu sterben beschlossen.“
Welche Liebe?
Nun ist Liebe zunächst ein Wort. Wie es Wörter immer an sich haben, verstehen verschiedene Menschen ganz verschiedene Dinge unter dem selben Wort. Liebe ist Fürsorge, ist Vertrautheit – bei Marai verkörpert im Geruch -, ist Sicherheit, Geborgenheit, Bindung, Heimat, Zuneigung, Lebenssinn, Eigenliebe, Erfüllung, Wertschätzung ... , „Nicht-allein-sein“. In Souvenir-Läden kann man Büchlein oder Karten kaufen mit dem Motto: „Liebe ist ...“ Der Zeichner variiert darin Handlungen, die Liebe ausdrücken. Liebe ist also nicht nur Gefühl, es ist auch handeln.
In allen Bestimmungen geht es um Beziehung resp. Bezug. Liebe ist die Kraft der Verbindung. Mit Lieblosigkeit wird der Verlust oder das Fehlen jeglicher Bezogenheit ausgedrückt. Es ist wichtig, das zu verstehen. Denn z.B. ein Racheakt ist etwas anderes als Lieblosigkeit. Auch wenn wir diese Unterscheidung oft übersehen, sind Gleichgültigkeit (also Lieblosigkeit) und z.B. Eifersucht ganz verschiedene Haltungen.
Die Kraft der Liebe
In vielen Darstellungen der Literatur, aber auch in Mythen und Religionen wird die Kraft der Liebe bezeugt. Es ist nicht zufällig, dass religiöse Rituale die Bezogenheit und das Aufgehoben sein in einer grenzenlosen Liebe betonen.
Es ist nicht gleichgültig, ob ein schwerkranker Mensch spürt, dass er geliebt wird – in Gefühl und in Tat. Es ist nicht gleichgültig, ob anonyme Pflegende oder herzlich besorgte Mitmenschen ihm helfen, um seine Gesundheit zu ringen. Es spielt eine Rolle, ob neben der professionellen Routiniertheit der Helfenden auch „Herzblut“ in der Pflege ist.
Liebe ist Austausch; Geben und Annehmen (nicht Nehmen!). Liebe ist ein Austausch von Kräften, ein sich gegenseitiges Stärken. Was zwischen ihnen hin- und herfliesst ist Lebenskraft und Lebensmut. Dabei ist „Geben“ aber nicht seliger als „Nehmen“! Wer nicht annehmen kann, was ein anderes ihm oder ihr geben will, ist nicht liebesfähig; denn er resp. sie stösst den andern Menschen in seinem Bedürfnis zurück, einem Mitmenschen etwas zu geben und für diesen wertvoll zu sein.
Störungen der Liebe
Jeder Mensch ist auf den Zufluss von Lebensenergie von andern Menschen angewiesen; denn das blosse körperliche Überleben ohne Bezug zu nichts verkommt zum Vegetieren. Der Versuch, sich vom Liebesbedürfnis völlig unabhängig zu machen, kann in schweren Störungen enden. Mit Liebesbedürfnis dürfen wir aber nicht nur die begehrliche Seite bezeichnen, sondern auch das Bedürfnis zu geben und für jemanden wichtig zu sein! Liebe ist immer wechselseitig, sonst gerät sie zur Abhängigkeit. Starke und einseitige Abhängigkeit ist denn auch eine Störungsform der Liebe.
Das Gefühl, nur Empfänger von Wohltaten sein zu müssen und nichts geben zu dürfen, lässt Liebe erkalten – zwischen Erwachsenen, zwischen Kindern und zwischen Kindern und Eltern. Wo der Austausch abbricht, verstört die Liebe nur noch. Leicht wandelt sich Liebe in Ärger und Trauer. Kommt dann noch ein Vorwurf hinzu, zu wenig dankbar zu sein „für alles“, wächst die Gefahr, dass sich die Beziehung lebensfeindlich wandelt: Der „grosszügig Liebende“ wird fremd, wird zu dem, der alles hat. Statt Liebe stellt sich Neid ein. Oder der Gedanke stellt sich ein, er mache alles nur für seine eigene Anerkennung und für seinen Stolz. Er wird als überheblich wahrgenommen. Aus Liebe wird Hass.
Abhängigkeit
Angewiesen sein auf diesen Zufluss von aussen, bedeutet abhängig sein. Und dies ist für viele Menschen eine Knacknuss. Besonders in der Pubertät, wenn die Loslösung von den Eltern ansteht, wird die Spannung zwischen Freiheit (Autonomie) und Abhängigkeit zum fast unvermeidbaren Konflikt in sich selber. Wie löst man die Spannung zwischen dem Pol „Geliebt werden und lieben zu wollen“ und dem Pol „unabhängig zu sein, niemandem und nichts Rechenschaft zu schulden“?
Es gibt Menschen, die der Illusion verfallen, auf Liebe verzichten zu können. Die Odyssee solcher Lebensläufe werden z.B. im Drama „Peer Gynt“ von Hendrik Ibsen meisterhaft verdichtet. Sein Held landet in genussunfähiger Selbstsucht. Er kann sich alles leisten, aber nichts kann ihn befriedigen. Auch zeigt das Theaterstück klar, dass das Drama nicht nur die Jugendzeit bestimmt. Vielmehr werden viele Menschen jahrzehnte oder gar das ganze Leben lang mit diesem Konflikt kaum fertig.
Vermutlich ist die Fehleinschätzung, sich durch beziehungslose (unabhängige) Alleinbestimmung befriedigen (befrieden) zu können, auch die Urwurzel fast jeder Sucht: Die Suche nach Genuss und Erfüllung, die sich nie oder höchsten für Momente mit Mitmenschen verbindet, kann nicht befriedigend enden. Denn Sucht führt gerade nicht zur Sättigung in Unabhängigkeit, wie die Stoffe das vorgaukeln. Auch Arbeitssucht, Kaufsucht oder Sexsucht spendet nie die Nahrung, die die Menschen brauchen: Mitmenschliche Wärme und Lebenskraft, die aus der liebenden Beziehung kommt.
Ablösung
Mit der Einsicht, dass Abhängigkeit unvermeidlich zum menschlichen Leben gehört, ist der Konflikt aber nicht vom Tisch. So erfüllend es ist „für jemanden da zu sein und jemandem Rechenschaft zu schulden“, so bedrängend – ja erdrückend – kann es werden, wenn diese Abhängigkeit alle Freiheit und Unabhängigkeit erschlägt. Jugendliche haben – psychologisch gesprochen – recht, wenn sie sich aus der Abhängigkeit strampeln wollen.
Aus Sicht der Mutter oder des Vaters sieht aber dieser Abstrampelversuch manchmal anders aus. Nicht selten geraten sie in eine Art zweite Pubertät: Wie die Kinder sich nach neuen Beziehungspartnern (und Lebensaufgaben) umsehen, müssen das auch die Eltern tun. Je inniger und zentraler in ihrem Leben die Beziehung zum Kind war, desto grösser stellt sich auch ihnen die Ablösungsaufgabe. Verwechseln nicht manche die Ablösung von den Kindern mit der Ablösung vom Ehepartner? Es sind die Kinder, die neue Beziehungen finden müssen! Verabschieden sie sich als starke Bindungspartner von den Eltern, kann des auch eine Chance der Erneuerung für „die alte“ Beziehung sein, die nicht selten im Laufe der Familiengeschichte etwas distanzierter geworden ist. Schliesslich liegt es in der Natur des Lebenslaufes, dass weniger Zeit und Gefühlsenergie für die Paarbeziehung bleibt, wenn sich die Eltern auf die Beziehung zu den Kindern einlassen!
Wandel der Familie
Wenn die Pubertät eine instabile Zeit für das Selbstbewusstsein und den Selbstwert der Jugendlichen ist, darf nicht übersehen werden, dass Eltern nicht selten ebenfalls – wieder (?) – auf diesen Boden geraten. Für 15 oder 20 Jahre haben die Kinder viel Lebenssinn abgedeckt, Liebesbezeugungen entgegengenommen, Zuwendung gebraucht und gebracht: Und jetzt soll das plötzlich aufhören? Wie oft werden Kinder „nur aus Liebe“ in ihrer Expansion und Selbständigkeit eingeschränkt, weil der Verzicht auf diese Beziehung schwer fällt?
Als Eltern müssen wir uns im Klaren sein: Die Kinder sollen uns zurücklassen! Es gehört zur Generationenfolge. Das muss nicht gehässig, im Streit oder mit Abwertungen geschehen, ganz im Gegenteil; aber so wie die Eltern nicht mehr für die Kinder da sein müssen, sollen diese auch nicht mehr für die Eltern da sein. Jedenfalls dürfen Eltern in dieser Situation nicht in Abhängigkeit zu den Kindern geraten und zu „Kindern der eigenen Kinder“ werden.
Zweierkisten
Wie bei der Geburt des ersten Kindes ändert das Ausziehen der Kinder die Familie massiv. Die Übergangszeit ist wohl länger und meist auch „schleichender“. Aber es gilt die Beziehung zwischen den Eltern wieder neu zu ordnen. Aus der Kräftedynamik zwischen drei oder mehr Personen wird mehr und mehr wieder eine Zweierbeziehung. Die Gefühle, die Lebensbedeutung, die Hilfe und – es sei nicht verschwiegen – die Sorgen und der Ärger, die die Kinder mit sich brachten, fallen wieder auf das Paar zurück – zumindest dort, wo die Bindungskräfte des Paares reichten, die Familie mit Kindern resp. trotz Kindern zusammenzuhalten.
Oft wird nur die Problematik der Mutter unter dem Stichwort „empty nest“ (Leere nach dem Auszug der Kinder) beschrieben. Der Vater und insbesondere die Paarbeziehung spielt jedoch eine wesentliche Rolle. Der Auszug der Kinder lässt eine „Zweierkiste“ zurück. Zu ihrem glücklichen Auszug und damit einem Leben ohne Schuldgefühle gegenüber den Eltern gehört wesentlich dazu, wie die Eltern miteinander in dieser Situation klar kommen.
(Über Gefahren der Liebe, werde ich im nächsten Heft schreiben)
© Dr. phil. Rudolf Buchmann

Stichworte: Elternschaft, Familiendynamik, Erzieungshaltung, Beziehung, Adoleszenz