Alles für mein Kind ... !

Im letzten Heft führte ich aus, dass Liebe viel mit seelischer Bindung zu tun hat. Bindung und Verbindlichkeit sind Lebensgrundlagen insbesondere für das kleine Kind. Für viele Menschen bleiben sie auch im späteren Leben Grundstein des Glücks. Bewusste – aber vor allem auch unbewusste – Bindungskräfte können die Entwicklung und das Leben geliebter Menschen aber auch gefährden.

„Ich will ja nur dein Bestes“. Beschwörend versuchen Eltern der Tochter klar zu machen, dass das Verbot, gegen das sie rebelliert, nicht gegen sie gerichtet sei. Die Eltern haben mehr Erfahrung; wollen sie vor Gefahren bewahren; sie tragen Sorge um sie. Ja, versteht sie denn das nicht?
Sie versteht das schon irgendwie und doch auch wieder nicht: Trauen ihr die Eltern denn nicht? Ist sie noch ein Baby, das den Laufhag braucht? Unsicher beharrt sie auf ihrem „Recht“ in dieses Week-end zu gehen, „wie alle andern auch“!
Was stimmt?
Ja, wer hat denn nun recht? Die Argumente der Eltern sind korrekt. Mit ihrer Lebenserfahrung, ihrem Informationsstand, den Schreckensnachrichten im Hinterkopf, was alles geschehen könnte, muss man ihnen die vernünftige Urteilskraft zusprechen. Sie haben mehr Überblick über die Umstände und den bisherigen Lebenslauf der Tochter! Haben sie doch! Oder?
Andererseits: Mit bald 15 muss sich die Tochter langsam selbständig machen. Wer keine eigenen (authentischen) Erfahrungen machen kann, lebt immer aus zweiter Hand. Richtige Selbsteinschätzung und Selbstvertrauen lernt man nicht am PC, sondern im alltäglichen Leben. Zudem die einmalige Chance dieser Einladung! Neugierde und mutige Schritte ins Leben lassen neue Erlebnisse zu, die nicht schon durch die Elterngeneration „vorgekaut“ sind. Die Haltung der 15-jährigen ist hoch erwünscht, für ihre eigene Entwicklung, für die Emanzipation als Frau und vielleicht sogar für den Aufbau neuer Lebensperspektiven in ihrer Generation! Sie hat ganz recht, sich zu wehren und für ihre eignen Interessen und Wünsche einzustehen! Unbedingt! Oder doch nicht?
Selbstprüfung
Und dann die „schlechte Gesellschaft“..? Die Drogengefahr ...? Und ihre Naivität im Umgang mit Burschen ...? Irgendwie ist sie doch noch fast ein Kind. Mein Kind soll es besser haben als wir damals – das schon; aber mein Kind muss ich schützen; mein Kind soll mir nicht abhanden kommen!
Wie entscheide ich im Konflikt mit der Tochter richtig? Wir kommen nicht um eine Selbstprüfung herum: „Mein“ Kind? Wem gehört das Leben meines Kindes? Hier kann ein sehr schwieriger Weg ins Innere ansetzen; denn meist ist es alles andere als leicht, zwischen fürsorglich-schützenden Impulsen und egoistisch-besitzergreifenden Wünschen zu unterscheiden. Wieviel Eifersucht und Neid sind im Beschützerimpuls verborgen?
Aber von einer 15-jährigen kann man auch schon einiges an Selbstprüfung erwarten: Wie wichtig ist ihr die Einladung tatsächlich? Wie sicher fühlt sie sich oder steht sie unter dem Druck von Freundinnen oder Freund? Wieviel Trotz und Langeweile stehen hinter ihrer Beharrlichkeit.
Eifersucht
Eifersucht: Sie soll meine Tochter bleiben. Ich will nicht teilen mit andern; die Mutter ist doch immer noch die nächste Vertraute und soll es bleiben.
Die Bindungskraft der Liebe kann ihre Färbung wechseln; denn Bindung hat immer zwei Pole: Den einen können wir „Fürsorge“, d.h. den Wunsch die geliebte Person gesund und ganz zu erhalten, den andern „eigenes Liebesbedürfnis“ nennen, d.h. den Wunsch von dieser Person beachtet, geachtet und geschätzt zu werden und mir ihr vertraut zu bleiben. Daran ist nichts falsch; auch ist der eine Pol nicht höherwertig als der andere!
Im Liebesbedürfnis steckt aber ein Gefahrenpotential. Der bedürftige Teil kann in einen verzweifelten Besitzanspruch pervertieren. Die Ausrichtung auf die eine bestimmte Person lässt alle Lebenskraft von dieser einen Zuwendung abhängen. Taucht die Bedrohung auf, diesen Menschen zu verlieren, entfesseln sich manchmal Kräfte, die „mit aller Gewalt“ die Liebe festhalten wollen. Leider ist „mit aller Gewalt“ manchmal wörtlich zu nehmen. Dabei spreche ich nicht von „Ehrenmorden“ und entsprechenden miserablen Ausreden, die nur ein Besitzdenken zwischen Menschen spiegeln, sondern von tiefen Verzweiflungen und Unfähigkeit mit Liebesverlust umzugehen. Eifersucht kann ein schweres Leiden sein und ist nicht auf Paarbeziehungen beschränkt.
Oft ist Eltern überhaupt nicht bewusst wie viel Eifersucht in ihrer Beziehung zu den eignen Kindern schlummert. Von der Angst, der Sohn liebe die Mutter mehr als den Vater, bis zur Angst, Tochter und Vater schmieden zusammen ein Bündnis gegen die Mutter, stürmen sehr starke Gefühle durch das Familienleben. Sie tun dies nicht erst heute, wie wir von der griechischen Ödipussage her wissen. Ich möchte die Möglichkeiten der Eifersucht allerdings nicht auf die geschlechtliche Zuordnung beschränken. Ein Vater kann auch auf die Mutter Tochter Beziehung eifersüchtig sein.
Und nun will die Tochter sogar ausserhalb der Familie Bindungen eingehen? Ja wo bleibe dann ich? fragt die Eifersucht.
Neid
Oft wird Neid und Eifersucht nicht genau unterschieden. Und doch ist er etwas völlig anderes; denn im Neid geht es nicht um Bindung. Insofern hat er mit dem Thema Liebe kaum etwas zu tun. Weil er in der Selbstprüfung aber nicht fehlen darf, doch ein kurzer Blick darauf.
Gönnen wir der Tochter die Erfahrungen, die sie mit diesem Wochenende machen könnte? Oder steht hinter der „fürsorglichen“ Ablehnung auch der Gedanke: Braucht es denn das? Das konnten wir früher auch nicht! So jung schon ..., muss das sein?
Ich will damit nicht einem Trend das Wort reden, der in der Erziehung nicht mehr „nein“ sagen kann. Es kann gute Gründe geben zusagen, es ist zu früh, zu riskant oder auch einfach unnötig. Teenager müssen nicht alles schon haben und erleben, was auch noch möglich wäre. Wichtig ist mir die Selbstprüfung, wie viel Neid z.B. auch auf die Jugend in der Ablehnung steckt.
Nun können weder Neid noch Eifersucht einfach unterdrückt oder entfernt werden. Vielleicht hat aber die Tochter mehr Verständnis, wenn diese Gefühle nicht versteckt werden hinter einer so wohlwollenden Miene (,die Kinder meist sowieso durchschauen). Es darf dann einfach nicht heissen: „Schau ich gönn dir ja alles und tue alles nur für dich, und drum muss ich dich beschützen und dir das Wochenende verbieten“. Unter Umständen ist die Haltung ehrlicher zu sagen: „Ich halte diese Erfahrung in deinem Altern nicht für nötig und angemessen!“ Vielleicht muss dann Zorn ausgehalten werden.
Trotz
Trotz ist seiner Natur nach der Gegenspieler der Bindung. Um Selbständigkeit zu entwickeln ist er unumgänglich. Trotzen kann man aber nur dort, wo Bindung besteht oder gefordert wird. Trotz ist nicht zu verwechseln mit Rücksichtslosigkeit, die andere Personen und deren Wünsche schlicht ignoriert.
Trotz ist ein gutes Zeichen; denn er zeigt an, dass der Konflikt zwischen Bindung und Selbständigkeit offen ausgetragen wird. Er beweist, dass sich Kind und Eltern gegenseitig nicht gleichgültig sind, zugleich aber nicht ohne weiteres bereit sind, die eigenen Wünsche, Eigenarten und Forderungen aufzugeben – nur um den Konflikt zu vermeiden. Trotz richtet sich nicht gegen Bindung, sondern gegen Unterordnung.
Im Trotz werden auch Kräfteverhältnisse getestet. Da spielt eine Rolle, welchem Bindungsdruck ein Kind Gegenwehr bieten muss. Die sprichwörtliche „Gluckenmutter“ handelt zwar „nur aus Liebe“. Die Gefahr, dass sie ihre Eier damit erdrückt oder ihre geschlüpften Küken erstickt, besteht aber doch. Es stimmt ja schon: Ihre Liebe ist echt und wahr. Sie erlebt es so und kann sich ihrer erdrückenden Haltung oft nicht bewusst werden. Entsprechende Hinweise von Partnern oder Umstehenden werden empört zurückgewiesen. Dies gilt natürlich nicht nur für Mütter. Auch ein sich verantwortlich fühlender Familienpatriarch kann ähnlich empfinden. Aussenstehende sehen den aussichtslosen Befreiungskampf des „in Liebe gebundenen“. Zu hoffen ist dann, dass das Kind selber genügend Kraft zu trotzen aufbringt, oder dass es jemanden findet, der es in diesem Unterfangen stärkt.
Lösungen
Wenn wir das verstehen, können wir anders mit der Tochter reden. Wenn alle Teile zu ihren verbindlichen (z.B. fürsorglichen, verantwortlichen und anhänglichen) Gefühlen und ihren aversiven (z.B. eigenständig-abgrenzenden oder neidischen etc.) Affekten stehen, wird es leichter den Gesprächspartner offen zuzuhören und ins Gespräch über die Situation zu kommen.
Der springende Punkt ist, ob gelingt zu vermeiden, dass weder eine „Richtig-Falsch-Debatte“ noch ein reiner Machtkampf entsteht. Die Gefühle und Wünsche der Tochter sind weder richtig noch falsch, ebenso wenig wie diejenigen der Eltern. Alle diese Gefühle haben einen Hintergrund, und damit also einen Grund. Gelingt es, die Diskussion lösungsorientiert zu führen? Können Für und Wider der Eltern und der Tochter ehrlich ausgebreitet werden? Werden alle Argumente ernsthaft aufgenommen und nicht frühzeitig interpretiert oder bewertet? Können Sie der Tochter darlegen, was sie zum Nein bewegt und kann sie darlegen, was sie davon hält, wo ihre Bedenken und ihre Wünsche liegen? Können sie Ihr eigenes Urteil nach dem Abwägen behalten, auch ohne auf die Zustimmung der Tochter angewiesen zu sein?
Ambivalenz
Sie sind schon ein gutes Stück weiter, wenn in solchen für alle (!) schwierigen Entscheiden die Ambivalenz ermöglicht wird. Ambivalenz: Damit bezeichnen wir den innerlichen Widerstreit zwischen positiven und negativen Gefühlen. Gelingt, dass die Tochter auch ihre eigene Befürchtungen und die Unsicherheit zeigen kann, ob es für sie gut ist – ohne fürchten zu müssen, dass sie gleich darauf festgenagelt wird? Können sie ihre Sympathie für das Projekt der Tochter gleichzeitig mit ihrer Besorgnis äussern – ohne zu fürchten gleich in ihre Ablehnung aufgeben zu müssen?
Solche Konflikte sind nie einfach. Der Vielschichtigkeit des Für und Wider wird nur gerecht, wer es mit allen Beteiligten auch in dieser Vielschichtigkeit anspricht. Für alle sind diese Anforderungen an Konfliktgespräche hoch einzustufen. Aber bedenken sie, dass für alle viel auf dem Spiel steht. In ihrer Besorgnis geht es um Gesundheit und Zukunft des Kindes und ihrer Beziehung zu ihm. Im Wunsch der Tochter geht es um Weiterentwicklung und vielleicht grossen Hoffnungen auf Weichenstellungen in ihrem Leben. Wenn sich die Tochter von der Ernsthaftigkeit Ihrer Bedenken beeindrucken lässt, ist hinter dem eventuell aus der Enttäuschung geborenen akuten Zorn viel an gegenseitigem Vertrauen gewonnen.
Was hier am Beispiel der Pubertierenden besprochen wurde, beginnt schon viel früher. Viele Aspekte können schon ab dem Kleinkindalter beobachtet werden.
© Dr. phil. Rudolf Buchmann

Stichworte: Familiendynamik, Neid, Eifersucht, Trotz, Elternschaft