Aushalten! - Mut machen
Elternschaft - ein Beruf gegen den Trend
Kinder kann man nicht
machen! Sie leben ihr eigenes Leben und wachsen nie nach einem Plan auf, bestehe dieser nun in Vorstellungen und Wünschen der Eltern, in Lehrplänen der Schule oder in Ratgebern.
Die Mutter resp. der Vater ist nicht „an allem Schuld“, was ihre Kinder aktuell tun und aus ihrem adoleszenten und erwachsenen Leben machen; denn es steht nicht in ihrem freien Willen, ihre Kinder - nach ihrem Ebenbilde oder nach ihren Wunschvorstellungen - zu formen und zu gestalten. Dennoch können sie auch nicht einfach aus ihrer Verantwortung für Wohl und Wehe der Kinder entlassen werden.
In dieser Zwickmühle erleben sich Eltern spätestens dann, wenn aus Nachbarschaft oder Schule Berichte oder gar Reklamationen kommen; wenn liebe Verwandte mehr oder weniger gut gemeinte Ratschläge zu erteilen beginnen oder die Eltern selber beginnen, sich Sorgen um die Entwicklung der Tochter oder des Sohnes zu machen.
Was hab ich falsch gemacht?
Immer wieder diese Anrufe: Jean hat die Aufgaben wieder nicht gemacht; war flüchtig und unkonzentriert. Er müsste doch in seinem Alter..., müsste doch endlich begriffen haben...... Wie oft steht dahinter die Frage, was machen die Eltern eigentlich, dass Jean....? Was unterlassen sie? Können sie nicht erziehen? Wie oft hören Eltern diese Fragen und Vorwürfe aus dem Anruf des Lehrers heraus? Wie oft hat er es gar nicht so meint? Oder doch ?
Dann beginnt das Rätselraten, das Sinnieren und nur zu oft ein Schuldgefühle-Poker, an dem kein Beteiligter ausgelassen wird! Die Lehrerin müsste halt auch.... Bei dieser Klasse kann man von Jean nicht verlangen..... Wenn sich der Vater mehr um ihn gekümmert hätte.... Und dahinter nagt immer die Frage: Was habe ich falsch gemacht?
Diese Frage, zumal sie meist nicht zu beantworten ist, macht Angst; Angst vor den eigenen Schuldgefühlen, vor eigenen Minderwertigkeitskomplexen, und Wut! Warum kann Jean nicht sein wie die andern; warum muss er immer wieder provozieren? Nicht zum Aushalten. Warum tun die andern nichts; warum muss immer ich? Müssten nicht andere das Schuldgefühl haben? Der andere Elternteil; die Lehrerin, die Schule, die Kollegen, die ihn anstiften? Muss Jean selber Schuldgefühle entwickeln?
Gute Reflexionen - schlechte Reflexionen
Sorgen führen ins Grübeln und das zu Recht. Nachzudenken, wie es zu Fehlverhalten kommt, was als Fehlverhalten gelten soll, wer welche Anteile dazu beisteuert, sind notwendig und gehören zum Erziehungs“geschäft“. Von grosser Bedeutung ist aber, in welcher Stimmungslage und mit welchen Gefühlen diese Reflexionen angestellt werden.
Dient das Nachdenken hauptsächlich dem Abwehren eigener Schuldängste oder eigener Ohnmachtsgefühle führen sie leicht in die Irre. Oft unterscheiden wir in der Alltagssprache nicht zwischen „Schuld“ und „Gründen“. Dies wäre aber sehr nützlich, damit die Überlegungen für das Kind (und die Eltern selber) hilfreich werden und nicht neuerlichen Schaden erzeugen.
Gerät das Verhalten eines Kindes zum Streit zwischen den Erwachsenen, was wer falsch gemacht hat, verlieren alle; vor allem aber das Kind. Bald geht es dann nicht mehr um die Suche nach einem Verständnis für das Kind und über die Zusammenhänge, sondern nur noch um Rechtfertigungen und Beschuldigungen unter Erwachsenen. Dies hat aber noch nie ein Problem eines Kindes gelöst. Vielmehr führen solche Diskussionen immer weiter vom Kind weg; sei es dass sich ein Elternstreit entwickelt, der das Kind ängstigen muss und ihm ungerechtfertigte Schuldgefühle einimpft; sei es dass ein Hick-Hack zwischen Schule und Elternhaus entbrennt, der dem Kind keinerlei Erleichterung bringen kann, sich der Schule und deren Anpassungsforderungen selbstbewusst zu stellen.
Verantwortung
Verlieren wir das Ziel der Erziehung nicht aus den Augen! Was Jean erreichen soll, ist selbstverantwortliches Handeln. Unsere Pflicht als Erziehende ist, ihn dabei zu unterstützen und wo nötig Hilfe zu leisten. Zu dieser Hilfe gehört, ihm Selbstverantwortung zuzugestehen und ihn notfalls an diese zu erinnern. Es gehört aber auch zur erzieherischen Verantwortung, - wenn möglich mit ihm zusammen - abzuschätzen, wo er tatsächlich verantwortlich ist und wieviel Verantwortung er bereits übernehmen kann. Und hier ist oftmals an ein Zusammenspiel der Verantwortlichkeiten vieler Beteiligter zu denken.
Im Gegensatz zu einem Gerichtsverfahren, das darauf ausgelegt ist das Schuldmass des Einzelnen zu bestimmen, um das angemessene Strafmass festzulegen, führt in der Erziehung die Individualisierung und Zuteilung des Verschuldens nie weiter. Es ist nicht ein aussenstehender Beurteiler am Werk, der weiter nichts mit dem Kind zu tun hat. Als Begutachter resp. Richter habe ich keinen Anteil am Entstehen des Charakters des Kindes und auch nicht an den Spannungsherden, in denen es sich (nicht) bewährt. Erziehende sind aber immer Beurteilende und Beteiligte am Entstehen der Situation. Eltern, Kind, Lehrer und Klasse - und meist noch viele mehr - sind am Entstehen von Spannungen und am Entwickeln von erwünschten oder eben unerwünschten Lösungsmuster des Kindes beteiligt. Damit ist die Frage, wer Schuld ist, von vorneherein unangemessen; denn die Antwortung muss immer lauten: Alle und niemand.
In Frage steht demgegenüber, was tatsächlich das Problem von Jean ist und was Probleme um Jean herum sind; was und wer trägt wie bei zum Entstehen der Schwierigkeiten? Und vor allem, was kann wer tun, um Jean dem Erziehungsziel näher zu bringen, eine Persönlichkeit zu werden, die ihr Verhalten selbst verantwortet. Diese Fragen können hoch interessant sein und zu interessanten Gesprächen führen, die allen Beteiligten neue Einsichten bringen könnten: Einsichten über das Kind, über sich selber und über das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Art.
Spannungen aushalten
Manchmal ist es schon hilfreich aus der Schuldfrage auszusteigen und die Probleme mit echtem Interesse und Neugier für dieses Kind zu betrachten. So werden Spannungen (emotional aggressiv) zu etwas Spannendem (emotional interessant). Dies gelingt aber nur Menschen, die erlernt haben, Spannungen auszuhalten. Dann müssen sie nicht gleich Angst vor Versagen und Schuld haben und deshalb wegsehen wollen. Vielmehr können sie Spannungen als wichtigen Teil alles Lebendigen ansehen. Und hier beginnt der Beruf Elternschaft gegen den gegenwärtigen gesellschaftlichen Trend anzukämpfen.
Nicht mehr die trutzigen Eidgenossen und trotzigen Widerständler sind in der Schule gefragt; denn sie machen nur Ärger, sind Sand im Getriebe oder stören den reibungslosen Ablauf. Zugleich werden allerdings den Kindern die Supermans und einsamen Helden als Ideal- und Identifikationsfiguren angeboten, die das Gesetz im Alleingang - meist durch rücksichtslose Gewaltanwendung - verteidigen. Dies sind aber allesamt „Helden“, die nicht gelernt haben, Spannungen auszuhalten und deshalb nicht fähig sind, Raum und Zeit für Gespräche und Verhandlungslösungen zu suchen.
Nach meiner Meinung wären aber gerade tragfähige, statt schiesswütige Menschen in unserer Gesellschaft gefragt, sowohl als Kinder in der Schule als auch und besonders als Eltern und Lehrer. Um Störendes - also zumeist Spannungen - zu vermeiden, gibt die Gesellschaft in Form von Forschungsförderung und via Krankenkassen viel Geld für Medikamente aus, die Spannungen eliminieren sollen. Leider dienen sie nicht wirklichen Lösungen sondern nur dazu die Spannungen am Erscheinen zu hindern. Da sie dadurch aber künstlich ins Unbewusste abgeschoben werden und dort weiter bestehen, bilden sie so die Quelle für psychosomatische Störungen – mit weiteren Verdienstmöglichkeiten für die Pharmaindustrie!
Mit Spannungen umgehen lernt aber nur, wer solche spüren und sie ausdrücken darf. Er braucht darauf eine mitmenschliche Antwort resp. ein Vorbild, wie Spannungen fruchtbar gemacht werden können. Wenn wir Spannungen nur unterdrücken und nicht für Lösungen brauchen lernen, verlieren wir nicht nur Gesundheit sondern auch viel Innovationskraft in unserem Lebensraum!
Spannungsfeld Schule
In einer pluralistischen und vielschichtigen Gesellschaft, in der sehr unterschiedliche Werthaltungen nebeneinander leben, ist gerade die Schule der Ort, wo fast unausweichlich das Nebeneinander der Kulturen in konflikthaftes Kräftemessen umschlägt. Die Schule kann den gesellschaftlichen Wertegegensätzen am aller wenigsten ausweichen, weil sie alle Kinder und damit auch alle Eltern mit ihren Einstellungen aufnehmen muss und dafür sorgen soll, dass alle miteinander auskommen. Wenig beachtet wird dabei, wie hier dem einzelnen Lehrer, der einzelnen Lehrerin eine kaum zu lösende Aufgabe delegiert wird, der fast alle andern Berufsleute mehr oder minder elegant ausweichen können. Damit sei niemandem irgendwelche Schuld an den Spannungen zugeschrieben. Es gilt aber dieser Tatsache gewahr zu werden, um nicht in einen Schuldzuschiebe-Poker einzusteigen, wo keinen der Beteiligten Verantwortung treffen kann!
Diese Überlegung kann vielleicht da und dort helfen, aus einem emotional aggressiv geführten Konflikt um das einzelne Kind ein spannendes Miteinander zu machen, in dem Eltern und Lehrer - zusammen mit dem Kind und der Klasse - nach Wegen der Lösung suchen. Nach Lösungen, die oft nicht nur Schulprobleme oder Familienprobleme allein sind, sondern das gesamte Lebensumfeld aller Beteiligter angeht.
Flüchten oder Stand halten
Wo Sorgen entstehen oder Reklamationen kommen, sind immer starke, emotionale Spannungen am Werk. Spannungen können sich negativ oder positiv auswirken. Ist nicht langweilig, wenn nichts Spannendes geschieht? Spannung wird gesucht! Umgekehrt ist „Hochspannung“ eine sehr ambivalente Sache: Sobald sie das Gefühl der Überforderung auslöst, führt sie in Ängste und Abwehrreflexe. Nicht selten wird in einem Elterngespräch diese Ambivalenz deutlich: Irgendwie stört es die Eltern, dass Jean frech ist (es verursacht Mühe, Angst, Misserfolgsgefühle) und irgendwie bewundern sie ihn, dass er den Mut hat zu widersprechen, sich nicht kleinkriegen lässt und z.B. mit seinem Gerechtigkeitssinn nicht hinter dem Berg hält. Er hat erstaunliche Zivilcourage, nur eckt er damit ärgerlicherweise immer an. Die Ambivalenz der Eltern ist gut nachzuvollziehen: Was sie an Jean bewundern, bringt ihm Schaden und den Eltern Vorwürfe.
Horst E. Richter schrieb vor etlichen Jahren über dieses Dilemma: Flüchten oder Standhalten. Soll ich dem Druck der „Normalität“ , um „des Friedens willen“ nachgeben - auch wenn ich diese Normalität schlecht, vielleicht sogar unmenschlich finde ? Oder soll ich dagegen stehen und die eigenen Werte verteidigen? Eine ausserordentlich schwierige und heikle Frage, weil sie auch umgekehrt werden kann: Wird Mitmachen zum eigenen Vorteil (sich Angriffen entziehen) nicht plötzlich zum Mitschuldig zu werden, dass niemand einer schädigenden Normalität entgegentritt?
Leidenschaftliche Neugier!
Ich kann das Dilemma nicht lösen. Ich glaube, dass es letztlich unlösbar ist. Zusammenleben ist nie endgültig erreicht, sondern muss in jeder Gruppe, in jeder Generation und überall, wo Menschen zusammenkommen, in Auseinandersetzungen errungen werden. Da kommen wir an Spannungen nie vorbei und es kann auch nicht Ziel sein, den spannungsfreien Raum zu schaffen, weil dieser Versuch immer in Unterdrückung des Einzelnen endet.
Ich sehe die Hauptaufgabe von Eltern und Erziehern darin mitzuhelfen, dass die heranwachsenden Kinder Spannungen aushalten lernen und ihnen Mut gemacht wird, diese als etwas Interessantes zu erleben, als etwas, worauf einzugehen sich lohnt. Der Gewinn ist, den andern kennenzulernen, ihm näher zu kommen und allen ein Teilnehmen am gemeinsamen Lebensabschnitt zu ermöglichen. Dann fördern sie in ihrem Kind auch eine leidenschaftliche Neugier am Mitmenschen und am Andersartigen. Dann fördern sie auch Liebe und - nebenbei: Eine bessere Lernmotivation gibt es gar nicht.
© Dr. phil. Rudolf Buchmann